Mit dem neuen Gesundheitsmodernisierungsgesetz eröffnen sich für Kassen und Patienten neue Möglichkeiten im Gesundheitswesen. Die "Integrierte Versorgung", bei der die Kassen ganze Versorgungspakete für ihre Versicherten schnüren können, sind dafür nur ein Beispiel. Ist damit aber auch die Therapievielfalt garantiert? Sind die Patienten tatsächlich - wie vielfach werbewirksam behauptet - die Nutznießer dieser Neuerungen? Fragen, über die auf Einladung des Dachverbands Anthroposophische Medizin in Deutschland (DAMiD) und der Zukunftsstiftung Gesundheit namhafte Experten aus Medizin, Politik und GKV in Berlin diskutierten.

"Die Zeiten der Einheits- und Vollversorgung sind vorbei - das Gesundheitswesen heute ist geprägt durch Leistungsausgrenzung, Wettbewerb und Zentralisierung", betonte Nikolai Keller, Vorstandsmitglied im DAMiD, in seiner Einführung zur Berliner Tagung am 28./29.10.2004. Bisher geschützte Räume gehen dabei verloren, aber es entsteht auch mehr Freiheit für den Einzelnen. Diese Freiheit setzt jedoch voraus, dass eine Therapievielfalt besteht. Diese sei jedoch, so Keller, in Deutschland noch lange nicht gewährleistet - dominiert doch im Gesundheitswesen vorwiegend die konventionelle Medizin. Komplementäre Verfahren werden von den Kassen überwiegend nicht anerkannt und somit auch nicht bezahlt. Dafür fehlen die befürwortenden Empfehlungen des für die Anerkennung der Erstattungsfähigkeit zuständigen "Gemeinsamen Bundesausschusses". Lediglich im Rahmen von Modellprojekten ist es den Kassen derzeit möglich, die Kosten für z.B. Akupunktur, Homöopathie oder auch Anthroposophische Medizin zu übernehmen. Mehr als bisher werden heute zwar Patientenvertreter in die Entscheidungen einbezogen - auch im Gemeinsamen Bundesausschuss -, aber ein Stimmrecht haben sie dort (noch) nicht.

Aber mit der allseits geforderten Evidenz für die Therapieverfahren ist es schon bei den konventionellen Methoden nicht allzu weit her: Lediglich 2 bis 3 Prozent der allopathischen Medikamente sind evidenz-basiert evaluiert. Die meisten Studien weisen - wie jüngst eine Übersicht einer internationalen Fachzeitschrift ergab - zahllose Rechenfehler und statistische Lücken auf. Das aber wird großzügig in Kauf genommen, während bei unkonventionellen Methoden alles auf die Goldwaage gelegt wird.

Mehr noch: Die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften - für die meisten Ärzte maßgebliche Grundlage ihrer Therapieentscheidungen - seien weniger von einer evidenz-basierten Medizin (EBM) geprägt als von einer "evidenz-dirigierten Medizin" (EDM), erläuterte Dr. Helmut Kiene vom Freiburger "Institut für angewandte Epidemiologie und medizinische Methodologie". Diese EDM sei charakterisiert durch vier Störfaktoren (Bias), die die Erkenntnisse vieler Studien in Frage stellen:

  • Kommerz-Bias: Studien werden heute nur noch mit gewinnversprechenden Präparaten vorgenommen. Die immensen Kosten dafür können nur noch große Pharma-Konzerne aufbringen. Eine staatliche Förderung für Studien mit Komplementärmedizin gibt es so gut wie nicht.
  • Karriere-Bias: Mit Studien zur Komplementärmedizin lässt sich heute an den Hochschulen nicht Karriere machen - diese Medizinrichtung genießt dort kein Ansehen, im Gegenteil, wer sich für solche Studien einsetzt, wird häufig als "Außenseiter" abgestempelt und diffamiert.
  • Ethik-Bias: Die primäre Sorge gelte in vielen Studien der Wissenschaft, nicht dem Patienten. Das aber ist für Forscher aus den komplementärmedizinischen Richtungen inakzeptabel.
  • Präferenz-Bias: Die Anhänger von konventionellen Therapierichtungen sind eher bereit, sich nach dem Zufallsprinzip zwei Gruppen zuordnen ("randomisieren") zu lassen (eine, die wirklich mit dem Prüfverfahren oder -medikament behandelt wird, und eine, die eine Scheinbehandlung erhält) als Anhänger der unkonventionellen Verfahren. Randomisierte, kontrollierte Studien sind deshalb mit dieser Therapierichtung kaum möglich. Andere Studienformen werden in ihrer Wertigkeit zur Zeit nur wenig anerkannt.
  • Akzeptanz-Bias: Studien mit positiven Ergebnissen für unkonventionelle Therapieverfahren werden so lange interpretiert und zerpflückt, bis von dem positiven Ergebnis nicht mehr viel übrig ist.

Wegen dieser Störfaktoren wird die Leitlinien-Medizin zu einer "Medizin von oben" ("Top-down-medicine") - gerade diese war jedoch von dem Begründer der evidenz-basierten Medizin, David L. Sackett, als nicht evident gekennzeichnet worden. Die Leitlinien-Medizin allein könne deshalb, so Kiene, keine brauchbare Grundlage für eine patientengerechte Medizin darstellen.

Aber dennoch: Es kommt Bewegung in das teilweise festgefahrene Gesundheitswesen:

  • Über 1 Million Patienten haben sich bereits in die "Disease Management Programme" für chronische Krankheiten eingeschrieben.
  • Die Integrierte Versorgung wird ein Wettbewerbsinstrument der Kassen werden.
  • Das neu gegründete Institut für Qualität in der Medizin wird für mehr Behandlungssicherheit sorgen.
  • "Medizinische Versorgungszentren" (MVZ) werden als fachübergreifende ärztlich geleitete Einrichtungen die Einzelpraxis als Leitbild der ambulanten Versorgung ablösen. Bundesweit sind 17 MVZs in 6 KV-Bezirken bereits zugelassen, weitere 88 Anträge harren der Bearbeitung.

"Ein Aufbruch ist erkennbar, ein Durchbruch noch nicht", resümierte Rolf Stuppardt vom IKK-Bundesverband die Lage. Jetzt gelte es, das "Problembewusstsein zu schärfen, Lösungsvorschläge zu diskutieren und Vertrauensnetzwerke zu begründen", sagte Peter Meister vom DAMiD-Vorstand. Die Verfassung fordere den Methodenpluralismus, das Gesundheitsmodernisierungsgesetz ermögliche neue Gestaltungsräume - aber nicht das Ausleben von partikularen Gruppeninteressen oder kurzfristigen Aktionismus. Im Mittelpunkt stehe die Frage: Was dient dem Nutzen des Patienten? Es gelte, diese Chancen zu nutzen und an der Gesundung des Gesundheitsweisens mitzuwirken. "Je mehr es gelingt, Partei- und Verbandssichtweisen zu erweitern", so Meister, "desto mehr Entwicklung wird sich erreichen lassen." Die Tagung des DAMiD und der Zukunftsstiftung Gesundheit hat dazu ein gutes Stück beigetragen.

 

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Der DAMiD repräsentiert die Anthroposophische Medizin in allen gesellschaftlichen Bereichen des deutschen Gesundheitswesens. Als Dachorganisation vertritt der Verband die übergeordneten Belange und Interessen seiner 17 Mitglieder. Mitgliedsorganisationen sind Berufs- und Patientenverbände, Klinikverband, gemeinnützige Altenhilfe, Behindertenhilfe sowie Hersteller Anthroposophischer Arzneimittel.