Frau Dr. Stammer, Vorsorge statt Vorfreude, Ängste statt Zuversicht, Hebammen, die sich aus der Geburtshilfe zurückziehen, übervolle Kreissäle – was ist los in der Geburtshilfe?

Dr. Gabriela Stammer: Ja, es stimmt schon: Ärzte und Hebammen sind gestresst, weil der zeitliche und wirtschaftliche Druck immer dominanter werden und es oft keine klare Rollenverteilung in der Geburtshilfe gibt. Viele Schwangere leiden ebenfalls unter Stress und Ängsten, fast jedes zehnte Kind wird in Deutschland zu früh geboren. Schwangere finden kaum noch Hebammen und Gynäkolog:innen, die Kreißsäle sind immer öfter überfüllt. Es ist viel Vertrauen verloren gegangen.

Wie meinen Sie das?

Dr. Gabriela Stammer: Die Fachkräfte, also Hebammen und Frauenärzt:innen, fliehen wegen der schlechten Arbeitsbedingungen in Scharen aus ihrem Beruf. Und dabei sind das ja in der Regel Menschen, die ihren Beruf lieben. Aber eben nicht um jeden Preis. Wir sind im Krankenhaus noch sehr weit weg von der 1:1 oder 1:2 Betreuung – eine Hebamme betreut also oft viel mehr Frauen gleichzeitig. Kein Wunder, dass es zu Komplikationen und dann vermehrt zu Kaiserschnitten kommt. Heute liegt die Kaiserschnittrate in Deutschland immer noch bei über 30 Prozent – also dreimal so hoch, wie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als medizinisch angemessen angegeben.

Stichwort Kaiserschnitte: Warum sind die Raten so hoch bei uns – und auch in den meisten anderen Ländern?

Dr. Gabriela Stammer: Es ist einfach so: Eine natürliche Geburt ist zu schlecht bezahlt. Die Geburtshilfe wird nach den so genannten Fallpauschalen bezahlt. Das ist aber überhaupt nicht sinnvoll, weil eine natürliche Geburt nun mal nicht planbar ist. Es gibt schon lange die Forderung, eine natürliche Geburt mit einer viel höheren als der jetzigen Summe zu bezahlen. Das würde genug Luft schaffen, um sowohl für schnelle als auch langsame Verläufe, die es ja zuhauf gibt, gewappnet zu sein. Gesundheitspolitisch muss sich wirklich einiges tun: Nur mit gesellschaftlicher und politischer Wertschätzung für Geburtshilfe wird es gelingen, die Rahmenbedingungen in der Geburtshilfe entscheidend zu ändern und auch die Arbeitsbedingungen von Hebammen und ÄrztInnen zu verbessern. 

Wir brauchen unbedingt ein offeneres und wirklich ungeschminktes Gespräch über das, wo wir stark sind – und wo es nicht so gut läuft. Genau dafür setze ich mich in der ambulanten Betreuung ein.

Nun zu den Eltern: Schwangerschaft und Geburt sind doch heute so sicher wie nie zuvor. Eine Vorsorgeuntersuchung folgt auf die nächste. Woher diese Ängste?

Dr. Gabriela Stammer: Ja, obwohl die Vorsorgeuntersuchungen immer genauer werden, ergibt sich ein paradoxes Bild: Wir haben mehr Untersuchungen denn je, trotzdem steigt die Angst, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte. Das liegt sicher auch daran, dass die Untersuchungen ja gerade so angelegt sind, auch nur die kleinste Pathologie zu finden. Natürlich dürfen Eltern auch unsicher sein, das gehört quasi dazu. Wenn aber dazu ein gewisser Perfektionsdrang und dabei der Wunsch nach allgegenwärtiger Kontrolle kommt, kann das eine sehr problematische Mischung ergeben.

Können die Frauenärzt:innen den Eltern diese Ängste nicht nehmen?

Dr. Gabriela Stammer: Die Ärzt:innen sind ja quasi selbst betroffen: Viele Frauenärzt:innen haben Angst, etwas zu übersehen, nicht genau genug geschaut zu haben, nicht umfassend genug aufgeklärt zu haben. Auch die Hebammen haben Angst, Fehler zu machen. Das liegt natürlich auch daran, dass in der Geburtshilfe heute so viel geklagt wird wie nie zuvor und dass die Summen, um die es da geht, absolut existenzielle Ausmaße angenommen haben.

Viele Eltern haben Angst, etwas falsch zu machen. Was tun?

Dr. Gabriela Stammer: Wie gesagt, etwas Unsicherheit schwingt bei jungen Eltern immer mit, das ist völlig normal. Da kann es sehr hilfreich sein, sich mit erfahrenen Eltern auszutauschen. Das passierte früher oft innerhalb der Familie. Heute müssen wir dafür eben neue Formen finden. Zum Beispiel Elternseminare, bei denen in lockerer Runde die wichtigsten Alltagsfragen (passende Kleidung, Ernährung, Rhythmus, Rituale etc.) besprochen werden. Aber solche Angebote gibt es noch längst nicht flächendeckend. Solche Kurse sollten genauso als normale Kassenleistung finanziert werden wie Geburtsvorbereitungskurse.

Inzwischen hört man immer öfter, dass Frauen unter der Geburt psychische oder physische Gewalt erfahren haben. Was meinen Sie dazu?

Dr. Gabriela Stammer: Eine Geburt ist immer ein Grenzerlebnis und Kontrollverlust. Und je hektischer es wird, desto weniger Zeit ist da, um diesen Prozess auch in der Kommunikation gut zu begleiten. Manchmal erleben Frauen dies als Überforderung, als nicht-gefragt-Sein. Das ist schwer auszuhalten. Wenn allerdings vorher ein echtes Vertrauen zwischen Geburtshelfern und den werdenden Eltern aufgebaut werden konnte, entgleisen solche Situation in der Regel sehr selten, die Eltern können vertrauen, dass zum Wohl des Kindes richtig gehandelt wird – auch wenn es sehr schnell gehen muss. Meine klare Einschätzung ist, dass wir viel mehr Zeit für Beziehungsmedizin brauchen, auch und gerade in der Geburtshilfe!

Wenn so wenig Zeit ist und alle unter Druck stehen: Warum schließen sich Frauenärzt:innen und Hebammen dann nicht stärker zusammen?

Dr. Gabriela Stammer: Das ist bisher noch nicht sehr ausgeprägt. Ein Grund dafür ist, dass die Rollenklarheit in der Geburtshilfe oft nicht transparent ist. Die gesetzlichen Grundlagen sind auch nicht immer klar. Im täglichen Miteinander wird nicht immer deutlich, wer was besonders gut kann, wer was macht und darf, wie wir uns wirklich sinnvoll ergänzen können etc. Hier braucht es viel mehr ehrlichen Austausch der verschiedenen Perspektiven.

Wie kann man einen solchen Austausch fördern?

Dr. Gabriela Stammer: Wir brauchen unbedingt ein offeneres und wirklich ungeschminktes Gespräch über das, wo wir stark sind – und wo es nicht so gut läuft. Genau dafür setze ich mich in der ambulanten Betreuung ein. In der Geburtshilfe gibt es bisher zu wenig Dialog über die Grenzen des eigenen Fachbereichs hinaus. Wir haben in Deutschland große Defizite in der Kommunikation und im Wissenstransfer zwischen Frauenärzt:innen, Kinder:ärztinnen und Hebammen. Das wollen wir ändern. Denn Kindergesundheit beginnt vor der Geburt.

 Vielen Dank für das Gespräch!

 Gabriela Stammer 0567 Webüber Gabriela Stammer

Dr. med. Gabriela Stammer ist Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe mit eigener Praxis in Niedersachsen: www.aerztepraxis-kosteramthof.de Außerdem ist sie als Vorständin beim Dachverband Anthroposophische Medizin tätig, seit 2020 Beirätin in der Hufelandgesellschaft und seit 2021 Vorständin des LV Hartmannbund Niedersachsen.