In den vergangenen Jahren wurde und wird immer wieder intensiv über Sterbehilfe diskutiert – nicht nur, aber auch in Deutschland. Dabei wird der freie Zugang zu Sterbehilfe oft mit dem Recht auf Selbstbestimmung des Patienten gleichgesetzt. Dass Selbstbestimmung in dieser Frage aber auch ganz anders verstanden werden kann, zeigt sich in der Anthroposophischen Medizin, die den Wunsch nach Sterbehilfe eher als Hilferuf nach einer besseren Betreuung und vor allem nach einer menschlich zuwendenden Begleitung versteht, die auch Fragen nach der Sinnhaftigkeit von Leid nicht ausklammert.
Beim Sterben helfen?
Von Dr. med. Matthias Girke
Seit Mitte 2014 wird in Deutschland mit viel Engagement über eine neue gesetzliche Grundlage zum assistierten Suizid, also bei der Hilfe der Selbsttötung, debattiert. Für die Anthroposophische Medizin berührt diese Frage den Kern des ärztlichen Selbstverständnisses – mehr noch, den Kern des anthroposophisch orientierten Menschenbildes, das dem Menschen in jeder Phase seines Lebens, auch und gerade in der palliativen Situation, Raum für seelisch-geistige Entwicklung zugesteht. Vor diesem Hintergrund möchte die Anthroposophische Medizin der aktuellen gesellschaftlichen Debatte neue Impulse verleihen:
Die palliative Patientenbetreuung ist immer abhängig vom Menschenverständnis. Geht es ausschließlich darum, bei einem sterbenskranken Menschen belastende Symptome zu kontrollieren? Oder können auch am Lebensende noch zukunftsfähige Perspektiven entwickelt werden? Wird der Patient seelisch-geistig begleitet und unterstützt? Dafür braucht es neben einer symptomorientierten auch in dieser Situation einen salutogenetischen Ansatz, der nach den individuellen Ressourcen des Patienten fragt. Zum anderen müssen Menschen spüren, dass sie in Phasen von Zweifel, Ablehnung und existenzieller Angst nicht alleine sind und seelisch unterstützt werden. Drittens lebt jeder Mensch und erst recht der palliativ erkrankte Patient von Perspektive und Hoffnung, also von der Zukunftsfähigkeit des Menschen. Diese Haltung muss von den Ärzten und Pflegenden glaubwürdig vermittelt werden.
Sinnverlust entgegenwirken
Gerade in Sinnverlust, Angst und mangelnder seelischer Begleitung liegen die wesentlichen Gründe für den Wunsch nach aktiver Sterbehilfe – und nicht in unkontrollierbaren somatischen Symptomen, wie man vielleicht meinen würde. Viel häufiger sind es Depressionen, seelische Verzweiflung und auch das Gefühl, anderen Menschen zur Last zu fallen, die dem Wunsch zu sterben, zugrunde liegen. Die entscheidende Ursache ist aber der Sinnverlust: Wozu das ganze Leid, wenn doch nur der Tod kommt und dann „alles erledigt“ ist? Um den Menschen „sinnstiftend“ zu begleiten, sind wir in dieser Frage nicht nur als Ärzte, sondern auch als Menschen gefordert.
Um das leisten zu können, kommt es entscheidend auf eine aktiv ergriffene professionelle und ethische Entwicklung der Behandler an. Dabei sollten wir uns ehrlich fragen, ob unsere ethische Professionalität in gleichem Maße wie die medizinisch-professionelle ausgebildet ist. Die Grundsäulen der Patienten-Arzt-Beziehung bestehen in der Palliativmedizin nicht nur in dieser professionellen Kompetenz und empathischen Beziehungsgestaltung, sondern auch im therapeutischen Engagement. Sobald der Patient diesen Willen zum Heilen erfährt, fühlt er sich unterstützt auf seinem Weg und kann neue Perspektiven entwickeln. Die Erfahrung zeigt, dass der Wunsch nach aktiver Sterbehilfe dann oft schwindet. Der assistierte Suizid erscheint dann im Sinne von Klaus Dörner als „tödliches Mitleid“.
Chance zur Entwicklung
Durch die medikamentöse Therapie lassen sich in der modernen Palliativmedizin die meisten Symptome kontrollieren, auch Arzneimittel der Anthroposophischen Medizin helfen uns in der palliativen Erkrankungsphase. Besondere Bedeutung haben die Äußeren Anwendungen der anthroposophischen Krankenpflege und Physiotherapie. Die Kunsttherapien öffnen das seelische Erleben und wecken die innere Aktivität des Patienten. In der Gesprächstherapie werden Fragen nach den individuellen Werten und biographischen Zielsetzungen des Patienten aufgegriffen, einschließlich der spirituellen und religiösen Überzeugungen des Patienten sowie Fragen zu Schicksal oder Nachtodlichkeit. Das entscheidende Merkmal der anthroposophischen Palliativmedizin ist die Orientierung an der Entwicklungs- und Zukunftsfähigkeit des Menschen, dessen seelisches und geistiges Wesen nicht an die leiblichen Grenzen von Geburt und Tod gebunden ist.
Ein solches vielschichtiges Menschenbild berücksichtigt bei der Frage des assistierten Suizids verschiedene Ebenen. Während auf der körperlichen Ebene eine leid- und schmerzbelastete Erkrankungsphase endlich zu Ende zu gehen scheint, so dass der Patient „erlöst“ ist, ergeben sich durch das Einbeziehen einer seelisch-geistigen Ebene ganz andere Aspekte: Versteht man den Menschen als ein geistbegabtes Wesen, das auf Zukunftsfähigkeit und Entwicklung angelegt ist, auch wenn der Leib sterblich ist, so nimmt man durch den aktiv herbeigeführten Tod dem Patienten das Wesentlichste, nämlich die Chance, dass aus Krankheit geistige Entwicklung entstehen kann. Um es mit Novalis zu sagen: „Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch. Wenn der Mensch stirbt, wird er Geist“. So kann vor diesem Hintergrund die scheinbare Beendigung von Schmerz und Leiden möglicherweise neuen Schmerz, ein Gefühl des Verlustes, der Entbehrung und des Leidens mit sich bringen. Das Leid wäre dann lediglich verschoben, möglicherweise sogar in einen dafür nicht vorgesehenen Bereich.
Autonomie erringen
Wir Ärzte erleben immer wieder Patienten mit Sterbewunsch, auch in einem anthroposophischen Krankenhaus. Die Erfahrung zeigt, dass sich dieser Wunsch durch eine gute palliative und hospizliche Therapie sowie seelische und geistige Unterstützung fast immer in neue Sinnsetzungen und neu errungene Autonomie wandeln kann. Der Patient „ist“ dann nicht krank, sondern „hat“ die Erkrankung, erlebt sich selbst als autonomiebefähigt auch in der palliativen Erkrankungsphase. Ihm ist dadurch keinesfalls seine Würde genommen, weil er „unwürdigem Leiden“ ausgeliefert ist. Vielmehr gewinnt er in besonderer Weise gerade in dieser Erkrankungsphase. Aktive Sterbehilfe und assistierter Suizid empfinden Würdelosigkeit im Leiden und verkennen, dass jedem Menschen in jeder Lebenslage ausnahmslos Würde seines Menschseins zukommt. Für eine Palliativmedizin, die sich am Menschen und seiner Entwicklungsfähigkeit auch in der späten Erkrankungsphase orientiert, ist der assistierte Suizid keine Option. Stattdessen geht es darum, den Menschen auch in seinen seelisch-geistigen Bedürfnissen intensiv zu begleiten. Selbstverständlich kann in seltenen Fällen bei einem nicht kontrollierbaren Beschwerdebild die palliative Sedierung erforderlich sein. Ein aktives Helfen beim Sterben gehört allerdings auch in dieser Situation nicht zu den notwendigen Instrumenten.