Interview: "Wer heilt, hat Recht?"
Gesprächspartner ist PD Dr. Harald Matthes, Ärztlicher Leiter am Anthroposophischen Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe
Warum ist es eigentlich so schwierig, den Wirksamkeitsnachweis für die Komplementärmedizin zu erbringen?
Harald Matthes: Das ist nicht nur für die Komplementärmedizin schwierig. Denn wenn man genau hinschaut, gilt das auch für die Schulmedizin. Was ist Wirksamkeit? Wir kennen Wirkungen, die wir messen können. Zum Beispiel kann bei einem Bluthochdruck der Blutdruck nach Einnahme eines blutdrucksenkenden Mittels gemessen werden. Ist der Druck gefallen, zeigt das Medikament eine objektiv überprüfbare Wirkung. Die Frage nach der Wirkung wird in den Zulassungsstudien geklärt. Ob es dem Patienten damit allerdings besser geht oder gar lebensverlängernd wirkt, ist etwas ganz anderes. Um im Beispiel zu bleiben: Entscheidend wäre es, die Risiken zu reduzieren, die mit dem Bluthochdruck einhergehen.
Sie unterscheiden "Wirkung" und "Wirksamkeit". Was bedeutet das für die komplementärmedizinische Forschung?
Matthes: 1976 gab es ein neues Arzneimittelgesetz und im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens eine wichtige Auseinandersetzung, an der sich die Anthroposophische Medizin aktiv beteiligt hat. Dabei wurde die Unterscheidung zwischen Wirkung und Wirksamkeit verbindlich festgelegt. Die Wirkung bezeichnet den Effekt auf einen Surrogatmarker, also auf einen bestimmten Messparameter. Den Patienten interessiert aber in erster Linie, ob eine Therapie oder ein Medikament seine Krankheit hinsichtlich der Prognose beeinflusst - das ist die Wirksamkeit. Heute stellen wir uns die Frage, was insgesamt in die Bewertung der Wirksamkeit einzugehen hat. Heißt Wirksamkeit auch, dass ein Risiko gesenkt wird? Ist ein Medikament nur dann wirksam, wenn es auch das Leben verlängert? Diese Aspekte werden zunehmend vor allem in der Onkologie und bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen diskutiert.
Die Komplementärmedizin basiert auf einem ganzheitlichen Menschenbild. Was für Konsequenzen ergeben sich daraus?
Matthes: Die konventionelle Medizin, nennen wir sie einfach die Schulmedizin, hat sich überwiegend dort bewährt, wo man bestimmte Parameter physikalisch, biochemisch, physiologisch gut messen kann. Das bedeutet aber auch, dass bestimmte Krankheiten, die sich zum Beispiel im Funktionellen abspielen, für die Schulmedizin schwer zu fassen sind. Liegen nun erhöhte Messwerte vor, so versucht die Schulmedizin, diese Werte in der Therapie in Richtung Normwerte zu beeinflussen. Veränderte Werte werden in der Therapie durch Medikamente korrigiert - allerdings meist nur so lange, wie diese Medikamente tatsächlich im Körper sind. Anders in der Komplementärmedizin, wo weniger auf ein Korrigieren oder Unterdrücken eines Symptoms abgezielt wird. Stattdessen betrachtet man den gesamten Organismus, um festzustellen, welche körpereigenen Regulationen nicht mehr vorhanden sind und wie diese Regulations- oder auch Selbstheilungskräfte reaktiviert werden können.
Wie kann dieser Ansatz in der Forschung abgebildet werden?
Matthes: Nehmen wir wieder das Beispiel Bluthochdruck: In der Komplementärmedizin steht nicht allein die Korrektur des erhöhten Wertes im Mittelpunkt. Vielmehr setzen wir auf ein ganzheitliches Konzept, mit dem die körpereigene Regulation angeregt und zusätzliche Maßnahmen wie Gewichtsreduktion, salzarme Kost und Stressbewältigung eingesetzt werden. Dazu gehören auch Entspannungsübungen, Meditation oder Sport. Der Komplementärmediziner arbeitet also gleichzeitig mit ganz unterschiedlichen Faktoren, um ein Krankheitsbild zu behandeln. Für eine Studie, die einem komplementärmedizinischen Ansatz gerecht werden will, heißt das natürlich, dass das gesamte Konzept abgeprüft werden müsste. Man hätte dann nur einen Messparameter - den Blutdruck -, aber eine Vielzahl von unterschiedlichen Regelgrößen, an denen etwas verändert wird. Die Komplexität dieses Systems macht es so schwer, abschließend festzustellen, welche Komponente in welchem Umfang zur erreichten Senkung beigetragen hat. Denn die Einzelkomponente verändert oft nichts am erzielten Messwert. In der Schulmedizin geht es aber darum, diese verschiedenen Anteile genau zu benennen und deshalb die Komponenten einzeln zu überprüfen - ein Ansatz, der das integrative Konzept der Komplementärmedizin schlecht abbilden kann.
Wie wirkt sich das auf die Forschung zum Wirksamkeitsnachweis aus?
Matthes: In der Schulmedizin hat in der Vergangenheit ein Studiendesign dominiert, das Einzelkomponenten abfragt: eine Fragestellung, eine Studie, eine Antwort. Bei einem verblindeten, randomisierten Studiendesign, wie es in der Evidenz-basierten Medizin bislang üblich war, zeigen die geprüften Einzelkomponenten der Komplementärmedizin häufig wenig Effekt. In den letzten vier, fünf Jahren wurde aber zunehmend untersucht, wie die Komplementärmedizin bei einem bestimmten Krankheitsbild als gesamtes System wirkt. Und siehe da: Bei einem Systemvergleich schneidet die Komplementärmedizin oft besser als die Schulmedizin ab.
Sie sprachen von der Evidenz-basierter Medizin (EbM). Wie steht die Komplementärmedizin zu diesem Konzept?
Matthes: Im Idealfall sollte die EbM die externe Evidenz, also objektiv messbare Werte, und die interne Evidenz, also die individuelle Bewertung dieser Ergebnisse, gleichberechtigt abbilden. Allerdings kann von "Gleichberechtigung" zur Zeit keine Rede sein. Die externe Evidenz wird extrem hoch bewertet, die interne Evidenz hingegen gilt als relativ unwichtig. Dafür gibt es eine recht einfache Erklärung: Die Sehnsucht des Menschen nach objektiv "richtigem" Wissen ist sehr alt. Unsere gesamte abendländische Wissenschaftsgeschichte ist von der Vorstellung geprägt, dass der Mensch die Wirklichkeit immer nur subjektiv und damit eingeschränkt wahrnehmen könne. Daher der Wunsch nach einer externen Evidenz, bei der die Dinge objektiv gemessen werden. Gerade für Mediziner war es lange Zeit Tabu, zu sagen, dass man gute praktische Erfahrungen mit einem Verfahren gemacht habe, dass man eine bestimmte Therapie aus individuellen Gründen als sinnvoll einschätze - oder sogar den Patienten zu fragen! Alles, was als "interne Evidenz" gilt, war verpönt.
Dabei kann es eine externe Evidenz ohne eine interne Dimension gar nicht geben. Denn auch hinter messbaren Ergebnissen steht immer ein Mensch, der die Daten interpretiert, der zu einer Schlussfolgerung kommt und damit eine interne Perspektive mit ins Spiel bringt. Heute haben wir große Studien, die auf externer Evidenz basieren und die eine hohe statistische Aussage haben. Und gleichzeitig haben wir andere große Studien, die trotz desselben Designs und trotz desselben Messparameters zu anderen Ergebnissen kamen. Um diesen Widerspruch zu verstehen, fließt sehr viele interne Evidenz wieder in die Forschung ein, da die Ergebnisse ja bewertet werden müssen.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Matthes: Ja, beispielsweise die große ALLHAT-Studie, bei der es um Medikamente bei Bluthochdruck ging. Im Rahmen dieser Studie sind viele Tausend Menschen untersucht worden, so dass man feststellen konnte, dass das eine Medikament zum Beispiel bei Übergewichtigen besonders gut wirkt, das andere aber eher bei Normalgewichtigen. Dabei sieht man, dass einzelne Komponenten wichtig sein können, die vielleicht vorher bei den Einschlusskriterien noch gar nicht so herausgearbeitet wurden. Im nächsten Schritt geht es dann um die sorgfältige Bewertung der Einzelfaktoren - und damit wird die interne Evidenz zum integralen Bestandteil einer solchen Studie. Ohne Interpretation, also ohne die Urteilskraft des Menschen kommen wir zu keiner sinnvollen und wissenschaftlichen Bewertung der Daten. Und damit ist das große Paradigma der Medizin, dass wir ausschließlich objektive Daten brauchen, dahin. Ohne die Urteilsfähigkeit des einzelnen Menschen können wir mit den erzielten Daten wenig anfangen.
Gibt es heute bereits Ansätze, die die interne Evidenz stärker mit einbinden?
Matthes: Ja, zum Beispiel die Cognition-based Medicine (CbM). Dabei geht es darum, die Urteilsfähigkeit des Arztes ganz bewusst in Studiendesigns einfließen zu lassen. Außerdem gibt es heute die Versorgungsforschung: Wie wirken die Medikamente? Wie wirken die verschiedenen Interventionen, die es in der Medizin gibt? Wie wirkt ein Verfahren auf das Outcome? Wie auf die Lebensqualität? Das sind natürlich hoch interessante Fragen, denen wir uns bereits heute immer stärker stellen. Allerdings dauert es seine Zeit, bis diese Fragestellungen in die jetzige EbM integriert sein werden. Aber seitens der Patienten und der Krankenkassen werden immer mehr Stimmen laut, die sagen: Was interessieren uns randomisierte Studien für ein Medikament, das - bleiben wir beim Beispiel Bluthochdruck - nach dem Studienaufbau nur für Menschen ohne Übergewicht oder andere kritische Faktoren zugelassen wird? In der Wirklichkeit haben aber über 70 Prozent der Menschen mit Bluthochdruck Übergewicht, Diabetes oder andere Krankheiten. Insofern beginnt langsam ein Umdenken. Zum Beispiel werden auf Kongressen heute mehr große Kohortenstudien vorgestellt, die weniger Ausschlusskriterien haben und deshalb weniger artifiziell (durch hohen Selektionsbias) aufgebaut sind.
Werfen wir doch einen kurzen Blick in die Zukunft. Worum wird es in der medizinischen Forschung in den kommenden Jahren verstärkt gehen?
Matthes: Um nach vorne zu blicken, ist es ja oft sinnvoll, erst einmal zurückzuschauen, um sich den aktuellen Standpunkt klar zu machen. Die medizinische Forschung hat ihr Augenmerk in den vergangenen zehn Jahren vor allem auf die externe Evidenz gelegt, um ihre Studiendesigns zu verbessern. Und jetzt sind wir an dem Punkt angelegt: Wie bewerten wir diese Studien? So beginnen wir heute, die interne Evidenz stärker zu bewerten. In den nächsten fünf bis zehn Jahren werden wir diskutieren, wie sich das System der EbM mit ihrer externen Evidenz im Verhältnis zur Versorgungsforschung und zur Outcome-Forschung und deren Bewertung entwickeln kann. Diese Ansätze werden bereits debattiert. Bis die Inhalte allerdings wirklich breit diskutiert und schließlich auch allgemein anerkannt werden, wird noch einige Zeit vergehen. Insofern ist die Versorgungsforschung ein echtes Zukunftsmodell.
Ein Wort zur Studienlage zur Anthroposophischen Medizin...
Matthes: Lassen Sie mich dazu zwei kürzlich durchgeführte Studien exemplarisch herausgreifen. Das ist zum einen die IIPCOS-Studie, die akute Atemwegs- und Ohreninfekte unter anthroposophischer und unter schulmedizinischer Therapie untersucht hat. Viele hatten erwartet, dass die Schulmedizin die Symptome kurzfristig schneller beseitigt. Gezeigt hat die Studie jedoch das Gegenteil: Die anthroposophisch behandelten Patienten waren schneller beschwerde- und symptomfrei als diejenigen, die schulmedizinisch behandelt wurden. Und das, obwohl Antibiotika bei den Infekt- und Erkältungskrankheiten von den anthroposophischen Ärzten kaum eingesetzt wurden.
Eine weitere große Studie ist die AMOS-Studie, bei der vor allem die zusätzlichen Therapieverfahren untersucht wurden, die in der Anthroposophischen Medizin eingesetzt werden - also die Heileurythmie, die Anthroposophischen Kunsttherapien sowie die Rhythmische Massage. Dabei hat sich gezeigt, dass die einzelnen - auch chronischen - Erkrankungsbilder durch die Zusatztherapien auch langfristig deutlich profitiert haben. Der Untersuchungszeitraum ging über ein Jahr - also ein für eine Studie sehr langer Zeitrahmen - und brachte nachhaltig gute Ergebnisse: Die Lebensqualität hat sich anhaltend verbessert, die Symptome der Patientinnen und Patienten gingen zurück. Die Therapien wirkten also weit über den Zeitpunkt hinaus, zu dem sie eingesetzt wurden. Da es zu dieser Studie keine Vergleichsstudie zu schulmedizinischen Verfahren gab, wurden die Effektgrößen indirekt über Literaturvergleiche ermittelt.
Die anthroposophische Misteltherapie spielt in der Onkologie mittlerweile eine sehr wichtige Rolle. Wie kommt es, dass die Mistel in der fachlichen Wahrnehmung trotzdem häufig noch umstritten ist?
Matthes: Die Mistel ist das am häufigsten eingesetzte anthroposophische Arzneitmittel und ist mittlerweile sehr gut erforscht. Das bezweifeln leider immer noch viele Fachleute, die der Mistel aus vielfältigen Gründen ablehnend gegenüberstehen - obwohl sie es besser wissen müssten. So werden teilweise die guten Studien, die es zur Misteltherapie gibt, nicht immer anerkannt. Warum? Die Mistel kommt aus der Komplementärmedizin, die vielen Medizinern immer noch suspekt erscheint und deshalb pauschal abgelehnt wird. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung sieht anders aus. Wenn Fragen zur Misteltherapie sachlich erörtert werden, kommt man heute nicht mehr umhin, die Misteltherapie als etabliertes Therapieverfahren mit hoher Wirksamkeit zu bewerten. Die Patientinnen und Patienten sehen das mittlerweile genauso. Rund 60 Prozent der Krebspatienten wenden die Mistel heute an. Allerdings häufig, ohne den behandelnden Arzt darüber zu informieren - ein Aspekt, den manche Onkologen gerne ausblenden. Nicht nur in diesem Bereich sollte der Dialog zwischen Schul- und Komplementärmedzin weiter intensiviert werden. Einen guten Überblick über die Studienlage zur Misteltherapie gibt die Website www.mistel-therapie.de
Herr Dr. Matthes, vielen Dank für dieses Gespräch!
Januar 2015