Prof. Dr. med. Markus Blankenburg und Dr. med. René Madeleyn arbeiten seit Jahren Kinder mit Schmererkrankungen. Sie suchen nach neuen Wegen, beziehen das Umfeld mit ein und nutzen sowohl schul- als auch komplementärmedizinische Verfahren, um den betroffenen Kindern und Jugendlichen zu helfen. Im Doppelinterview berichten zwei Neuropädiater über ihre Arbeit, Erkenntnisse und Glücksmomente. 

Herr Dr. Blankenburg, Sie sind Ärztlicher Direktor am Olgahospital, Herr Dr. Madeleyn, Sie sind Oberarzt an der Filderklinik. Sie beide behandeln seit Jahren Kinder mit Schmerzerkrankungen. Was sind das für Schmerzen?

PD Dr. Markus Blankenburg: Man muss zwischen dem akuten und dem chronischen Schmerz unterscheiden. Der akute Schmerz ist erst einmal ein wichtiges Signal, dass etwas nicht in Ordnung ist. Wenn Sie mit der Hand auf eine heiße Herdplatte fassen und spüren keinen Schmerz, verbrennt die Hand. Wir brauchen diese Signalfunktion. Etwas ganz anderes ist der chronische Schmerz, bei dem Kinder und Jugendliche wiederkehrende Schmerzen in großer Intensität haben, so dass sie zum Beispiel nicht mehr zur Schule gehen können oder sich zurückziehen. Dazu zählen wir in Deutschland inzwischen rund 350.000 Kinder und Jugendliche.

Dr. René Madeleyn: Beim chronischen Schmerz haben die Kinder oft schon endlose ambulante Therapieversuche hinter sich, die alle nichts gebracht haben. Dann ist es manchmal sehr hilfreich, wenn das Kind in eine Klinik kommt, wo es oft besser gelingt, alle Dimensionen des Schmerzes zu betrachten und einzubeziehen.

Wie setzen Sie in der Therapie an?

Blankenburg: Die Forschung der letzten zehn Jahre hat uns ganz klar gezeigt, dass der Schmerz neben der körperlichen Seite immer auch andere Dimensionen hat. Wir spüren also nicht nur körperlich, ob uns etwas weh tut, sondern auch, dass sich unser emotionales Erleben verändert, zum Beispiel, wenn wir uns bei starken Kopfschmerzen plötzlich fragen: Ist das etwa ein Hirntumor? Außerdem hat jeder Schmerz eine soziale Seite: Wenn ich jetzt starke Schmerzen hätte, würde ich wohl versuchen, mich zu schützen, würde vielleicht dieses Gespräch absagen, ziehe mich zurück. Dadurch verstärkt sich der Schmerz aber noch. Denn heute wissen wir, dass das Erleben von chronischem Schmerz die Schmerzzentren im Gehirn verändert und vergrößert. Deshalb haben Schmerzen immer auch eine organische Seite. Im umgekehrten Fall, wenn zum Beispiel ein handfester Tumor Schmerzen verursacht, ist immer auch die seelisch-geistige Ebene berührt. Diese Wechselwirkung hat für die Medizin etwas sehr Wichtiges gebracht: Wir legen uns nicht mehr auf eine Unterscheidung von entweder „organisch“ oder „seelisch“ fest, sondern wissen, dass beide Dimensionen betroffen sind. Wenn ich die organische Seite mit Medikamenten behandele, bin ich zwar sehr erfolgreich beim akuten Schmerz – nicht jedoch beim chronischen. Behandele ich nur die emotionale oder soziale Seite, reicht das auch nicht. Wir müssen also auf allen Ebenen gleichzeitig ansetzen.

Wie kann das bei Kindern und Jugendlichen aussehen? 

Kinder haben so viele Gesundungskräfte, an die wir anknüpfen können

Madeleyn: Wir nähern uns dem Schmerz des Kindes immer von verschiedenen Seiten: Was ist das für ein Schmerz? Was sagt er dem Patienten? Welche Rolle spielt der Schmerz in der Familie? Kann das Kind mit dem Schmerz vielleicht etwas sagen, was es nicht anders ausdrücken kann? Wir hatten zum Beispiel ein Kind mit chronischen Kopfschmerzen, das mit seinen Eltern in einem Haus gelebt hat, obwohl die Eltern – durchaus freundschaftlich – inzwischen getrennt waren. Das Kind war mit dieser Situation überfordert. Erst als das Kind mit seinem Schmerz gezeigt hat, dass es mit dieser Situation nicht umgehen konnte, haben die Eltern zu einer neuen Klarheit und zu einem neuen Umgang miteinander gefunden. Solche Aspekte sind natürlich selten allein ausschlaggebend – aber in diesem Fall war es der Schlüssel zur Besserung.

Blankenburg: Im Unterschied zu Erwachsenen sind bei Kindern Körper, Geist und Seele noch viel enger verwoben. Das heißt, dass sich eine Irritation in dem einen Bereich sofort und heftig auf die anderen Bereiche auswirkt. Auf der anderen Seite sind die Chancen bei Kindern, das zu heilen, viel größer. Man muss früh mit der Therapie ansetzen, dann kann man am meisten erreichen.

Was wünschen sich die Eltern – außer natürlich, dass es ihrem Kind besser geht? Sind sie offen für eine solche ganzheitliche Therapie?

Madeleyn: Die Eltern, die zu uns in die Filderklinik kommen, entscheiden sich in der Regel ja ganz bewusst für diesen Ansatz. Aber auch sonst kann man eigentlich allen Eltern gut vermitteln, dass es viele Ansätze gibt, um die Wahrnehmung von Schmerz positiv zu beeinflussen.

Blankenburg: Viele Eltern kommen mit dem Denkfehler: Entweder es ist organisch, dann brauchen wir Medikamente. Oder es ist seelisch, dann braucht das Kind eine Psychotherapie. Wenn die Eltern aber verstehen, dass sich auch organische Schmerzen ganz intensiv auf die Seele und auf das Soziale auswirken und umgekehrt, dann begreifen sie ganz schnell, warum wir mehr als Medikamente brauchen, um dem Kind zu helfen.

Was braucht es denn?

Blankenburg: Hier am Olgahospital arbeiten wir nach einem wissenschaftlich evaluierten Konzept und erzielen damit sehr gute Ergebnisse. Alles, was zum Schmerz beiträgt, wird systematisch angeschaut und behandelt, zum Beispiel auch zu lernen, die Aufmerksamkeit gezielt auf etwas anderes zu lenken. Auf der seelischen Ebene geht es darum, das eigene Erleben für andere Empfindungen zu öffnen, beispielsweise über Imaginationsübungen wieder Mut zu entwickeln. Denn meist nehmen die betroffenen Kinder andere Gefühle, sowohl positive als auch negative, gar nicht mehr wahr. Mit älteren Kindern oder Jugendlichen können wir außerdem an dem bereits geschilderten Zusammenhang zwischen seelischer Verfassung und Schmerzerleben arbeiten. Unser Ziel ist es, die Kinder bzw. Jugendlichen (und ihre Eltern) zu Experten ihrer Krankheit zu machen.

Madeleyn: Unser Ansatz ist eingebettet in die Anthroposophische Medizin, die sich ja per se als integratives Konzept versteht. Das heißt, dass wir immer schauen, wo wir die konventionelle Medizin, zum Beispiel durch naturheilkundliche Mittel, sinnvoll ergänzen können. Außerdem – und das ist ein wichtiger Schwerpunkt bei uns – setzen wir auf künstlerische Therapien, um im Gefühlsleben wieder Schwingungsfähigkeit zu entwickeln, die ein chronischer Schmerz oft verhindert. Sie glauben gar nicht, weil heilsam sich Musik oder Malen dabei auswirken können. Es ist kein Zufall, dass wir dieses Gespräch hier in einem Raum voller Musikinstrumente führen … Beim Malen oder Musizieren kann sich ein Kind ganz neue Ziele erarbeiten, die die Aufmerksamkeit vom Schmerz wegführen. Auch mit äußeren Anwendungen haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht, zum Beispiel mit Solum-Öl-Einreibungen. Gleichzeitig setzen wir heilpädagogisch an, um das Lebensumfeld des Kindes, beispielsweise mit einer Familientherapie, zu verändern. Ähnlich wie hier im Olgahospital ist es auch bei uns so: Die Patienten kommen oft mit zu vielen Schmerzmitteln zu uns – und gehen oft ohne wieder nach Hause.

Sie beide haben viel mit Kindern zu tun, denen es wirklich schlecht geht. Was ist das Schöne an Ihrer Arbeit?

Madeleyn: Es ist für mich immer wieder schön zu sehen, dass in Kindern noch so viel Zukunft steckt! Sie sind auch oft sehr positiv und sogar kreativ im Umgang mit ihrer Krankheit. Kinder haben so viele Gesundungskräfte, an die wir als Ärzte anknüpfen können.

Blankenburg: Das stimmt! Für Kinder ist die Welt eben noch neu und sie erleben alles wie zum ersten Mal. Das bringt auch uns Ärzte immer wieder auf neue Ideen. Bei Kindern kann man in sehr kurzer Zeit viel erreichen. Wenn ich meine kleinen Patienten das erste Mal hier sehe, sind sie oft sehr bedrückt. Und schon 10 Tage später leuchten die Augen wieder und sie haben neuen Lebensmut entwickelt. Das sind sehr schöne Erlebnisse!

 

 über Prof. Dr. med. Markus Blankenburg

Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, spezialisiert auf Neuropädiatrie. Nach seinem Medizinstudium und der Facharztausbildung arbeitete Markus Blankenburg von 1999 bis 2012 in leitender Position an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln, Universität Witten/Herdecke. Außerdem war er als Oberarzt am dortigen Deutschen Kinderschmerzzentrum und Kinderpalliativzentrum tätig. Seit 2012 ist er Ärztlicher Direktor der Abteilung für Pädiatrische Neurologie, Psychosomatik und Schmerztherapie am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin Olgahospital, Klinikum Stuttgart. 

 

über Dr. med. René Madeleyn

Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Schwerpunkt Neuropädiatrie. René Madeleyn, Jahrgang 1951, absolvierte seine Ausbildung zum Kinderarzt an der Universitäts-Kinderklinik Marburg und am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke. Er war Schularzt an der Rudolf Steiner Schule Wuppertal. 1991 übernahm er die Leitung der Abteilung Kinder- und Jugendmedizin der Filderklinik. Heute ist er dort als Oberarzt für den Bereich Neuropädiatrie verantwortlich.