Lieber Herr Längler, sind Allergie die neuen Volkskrankheiten?
Prof. Längler: Ja, inzwischen hat fast jeder dritte Deutsche eine Allergie – am stärksten zugenommen haben Asthma und Neurodermitis. Hochgerechnet können wir von etwa 12,3 Millionen Betroffenen in Deutschland ausgehen. Das sind fast doppelt so viele wie noch 1990. Vor allem betroffen sind Frauen sowie Kinder und Jugendliche.
Was passiert eigentlich bei einer Allergie?
Prof. Längler: Bei einer Allergie antwortet das Immunsystem auf bestimmte, oft völlig harmlose Substanzen mit einer überschießenden Reaktion. Dabei werden vermehrt Antikörper gebildet, obwohl das in dieser Situation gar nicht nötig wäre. Etwas bildlich formuliert könnte man sagen, dass sich die Allergie als Überreaktion typischerweise an den Grenzorganen des Körpers zeigt: an der Haut und den Schleimhäuten inklusive Lunge und Darm. Im übertragenen Sinne geht es also um die Frage, wie der betroffene Organismus im Verhältnis zur Außenwelt reagiert.
Warum reagiert das Immunsystem so übertrieben?
Prof. Längler: Die Ursachen sind vielfältig. Eine eindeutige Antwort gibt es (noch) nicht. Sicher ist, dass das Immunsystem ein lernendes System ist, das erst im Laufe der Jahre ausreift, indem sich der kindliche Organismus mit unendlich vielen Antigenen auseinandersetzt. So entwickelt jedes Kind sein spezifisches Abwehrsystem und seine ganz individuelle Immunität. Wird diese komplexe Entwicklung gestört, können Allergien oder Autoimmunerkrankungen entstehen.
Warum sind heute so viele Kinder betroffen?
Allergieprävention - Prof. Längler empfiehlt:
"Kinder sollten viel Kontakt mit der natürlichen Umgebung haben, sie sollten sehr viel draußen sein, im direkten Kontakt mit Wald, Pflanzen und Bauernhoftieren. Sie sollten gestillt werden und anschließend Vollwertkost bekommen. Fieberhafte Erkrankungen sollten (möglichst ohne fiebersenkende Mittel) in Ruhe ausheilen können. Antibiotika sollten nur dann eingesetzt werden, wenn sie auch wirklich unbedingt nötig sind."
Prof. Längler: Allergien und Autoimmunerkrankungen treten bei Kindern in den hochindustrialisierten Ländern immer häufiger auf, auch wenn sich manche Allergien bei einem Teil der Kinder wieder „auswachsen“. Seit vielen Jahren wird intensiv nach den Ursachen für die Zunahme der allergischen Erkrankungen geforscht. Heute sehen wir, dass die genetischen Ursachen doch nicht so groß sind, wie bislang angenommen. Stattdessen gehen wir davon aus, dass es vor allem um Umwelt- und Lebensstilfaktoren geht. Und dazu gleich die gute Nachricht: Das Immunsystem ist ein lernendes System. Wenn das Immunsystem des Kindes trainiert wird, kann es lernen, „richtig“ auf äußere Reize zu reagieren. Es ist also durchaus möglich, dass Allergien im Kindesalter vollständig ausheilen.
Damit es erst gar nicht so weit kommt: Was kann man zur Vorbeugung tun?
Prof. Längler: Eine ganze Menge! Denn auf den Lebensstil haben wir ja durchaus Einfluss. In der Anthroposophischen Medizin gehen wir davon aus, dass die Allergie-Prävention ganzheitlich ansetzen sollte. Aus verschiedenen Studien wissen wir, dass Kinder aus dem ländlichen Umfeld (insbesondere von Bauernhöfen) ein deutlich geringeres Allergierisiko als Stadtkinder haben. Natürlich zieht nun nicht jede Familie aufs Land, aber Eltern können auch auf andere Weise dafür sorgen, dass Kinder mit natürlichen potenziellen Allergenen in Kontakt kommen. Kinder sollten unbedingt viel im Freien spielen und dabei mit Waldboden, Pflanzen und Bauernhoftieren in direkte Berührung kommen. Manchmal bekommt das Kinder trotzdem eine Allergie. Es ist einfach so, dass es keine Garantie für ein Leben ohne Allergie gibt.
Welche Rolle spielt die Ernährung?
Prof. Längler: Eine sehr große: Was das Kind täglich isst, wirkt sich stark auf das Immunsystem aus. Das fängt mit dem ersten Lebenstag an: Die wichtigste Allergie-Prävention ist und bleibt das möglichst ausschließliche Stillen in den ersten sechs Lebensmonaten! Das ist wissenschaftlich inzwischen gut belegt. Nach dem 6. Lebensmonat sollte die Einführung der Beikost qualitativ hochwertig, regional, frisch und natürlich belassen sein. Vollwert- und Bioküche, die in Ruhe bei gemeinsamen (!) Mahlzeiten gegessen wird, fördert die Verdauungsaktivität. Riechen, Schmecken und Kauen gehören zum gesunden Verdauungsprozess. Ebenso wichtig sind auch längere Nahrungspausen, die dem Organismus Zeit lassen, die Nahrung vollständig abzubauen und aufzunehmen.
Immer wieder hört man, dass fiebersenke Mittel Allergien begünstigen. Was ist da dran?
Prof. Längler: Ja, inzwischen ist gut belegt, dass Kinder, die bei grippalen Infekten & Co. oft fiebersenke Mittel wie zum Beispiel Paracetamol bekommen haben, ein höheres Allergie-Risiko haben. Auch wenn Eltern gerade im ersten Kindergarten-Jahr am Ende ihrer Nerven sind, weil das Kind einen Infekt nach dem anderen hat: Die ständigen fieberhaften Infekte der Kleinkinder sind nicht Ausdruck eines gestörten Immunsystems, sondern die Voraussetzung dafür, dass sich das Immunsystem gesund ausbilden kann. Dieser Prozess wird allerdings empfindlich gestört, wenn fiebersenkende Mittel gegeben werden.
Was ist mit Antibiotika? Gibt es da auch einen Zusammenhang mit Allergien?
Prof. Längler: Ja, es ist durch Daten aus wissenschaftlich guten Studien belegt, dass Kinder, die vorschnell Antibiotika bekommen, ebenfalls ein höheres Risiko für allergische Erkrankungen haben. Ein Grund mehr, den Einsatz von Antibiotika endlich drastisch und auf sinnvolle Indikationen zu begrenzen.
Sie sind anthroposophischer Kinderarzt. Wie behandeln Sie Allergien?
Prof. Längler: Auch wir haben nicht das eine Zaubermittel gegen Allergien. Aber wir können viel tun, um die Symptome zu lindern und den kindlichen Organismus so weit zu stärken, dass die Allergie idealerweise ausheilt. Was das im Einzelfall ist, kommt natürlich sehr auf die allergische Erkrankung und das Kind an. Allgemein kann man natürlich sagen, dass Desensibilisierungen sehr hilfreich sind, weil der Organismus dadurch lernt, bestimmte Antigene ganz unaufgeregt zu verdauen. Ansonsten gilt: Allergieauslöser meiden! Also zum Beispiel kein felltragendes Haustier anschaffen (aber vorhandene Haustiere nicht weggeben!), bei Heuschnupfen eher gehen als Fahrrad fahren. Außerdem gilt: Konsequent darauf zu verzichten, in Gegenwart des Kindes zu rauchen. Und auch die Pädagogik ist wichtig: Sinne und Aufmerksamkeit stärken! Außerdem ein süßer Tipp: Bei Heuschnupfen dem Kind täglich einen Löffel Honig aus der Region (erst ab 12 Monaten) geben: die im Honig enthaltenen Pollen können das Immunsystem sinnvoll stimulieren.
Welche medikamentösen Therapien gibt es?
Prof. Längler: Zur Symptomkontrolle bzw. zur Linderung können Arzneimittel aus der konventionellen Medizin eingesetzt werden, zum Beispiel die bekannten Antihistaminika oder Kortison, das heute reduziert angewendet wird. Damit lassen sich die Symptome zunächst lindern. Zur dauerhaften Therapie können anthroposophische Arzneimittel verordnet werden. Darüber hinaus werden in der Anthroposophischen Medizin bei Allergien erfolgreich Heileurythmie und Kunsttherapie eingesetzt.
Herr Prof. Längler, vielen Dank für dieses Gespräch!
über Prof. Dr. med. Alfred Längler
Prof. Dr. med. Alfred Längler ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin sowie Kinderonkologe. Er ist Leitender Arzt der Abteilung Kinder- und Jugendmedizin und Ärztlicher Direktor am » Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke sowie Professor an der Universität Witten/Herdecke. Alfred Längler ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zur Kinderheilkunde, Vorsitzender der WHO-Unicef-Initiative „Babyfreundliches Krankenhaus“ in Deutschland und Mitglied der Nationalen Stillkommission in Deutschland.