Integrative Onkologie Interview

Die Diagnose Krebs hebt für viele Betroffene ihre Welt aus den Angeln. Sorgen, Ängste und Überforderung sind nicht selten Begleiter dieser Erkrankung. Wichtig ist, sich schnell in eine Behandlung zu begeben. Immer mehr Menschen entscheiden sich für eine Behandlung, die sowohl konventionelle Verfahren (wie beispielsweise Chemotherapie) als auch ergänzende Verfahren (wie zum Beispiel Yoga, Mind-Body-Medizin oder Anthroposophische Medizin) umfasst. Denn Chemotherapie, Strahlentherapie und Operation sind in der Behandlung meist sehr effektiv, bringen aber auch häufig schwere Nebenwirkungen mit sich.
Ansätze aus der Anthroposophischen Medizin, die in der Integrativen Onkologie dann eingesetzt werden, sind beispielsweise Heileurythmie, Kunsttherapie und Psychoonkologie oder die Misteltherapie. Ihr Ziel ist es, die Nebenwirkungen von Chemotherpaie & Co zu lindern und die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten verbessern.
Zu den Möglichkeiten und Grenzen der Integrativen Onkologie konnten wir die Experten Dr. med. Stefan Hiller und Dr. med. Bernd Labonte befragen. Dr. med. Stefan Hiller ist Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin und Chefarzt am Zentrum für Integrative Onkologie und Palliativmedizin » an der Filderklinik. Dr. med. Bernd Labonte ist Facharzt für Innere Medizin mit Schwerpunkt Gastroenterologie, Ernährungsmedizin BFD, Notfallmedizin, Onkologische Gastroenterologie DGVS und Oberarzt » am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke.


Lieber Herr Dr. Hiller, lieber Herr Dr. Labonte, was kann die Integrative Onkologie – und was kann sie nicht?

Dr. med. Stefan Hiller: Integrative Medizin ist die Anwendung von konventionellen Therapien im Verbund mit komplementären, also ergänzenden Maßnahmen. Zu den komplementären Therapien in der Krebsbehandlung gehören naturheilkundliche Elemente, Bewegung und Sport, Ernährung sowie die Supplementierung wichtiger Blutbestandteile. Hinzu kommen die Hyperthermie und die Misteltherapie. Mithilfe dieser Therapien können beispielsweise Symptome der Krebserkrankung oder Nebenwirkungen der konventionellen Therapien gelindert werden. Es gibt aber auch gute Daten, die zeigen, dass dadurch der Verlauf einer Tumorerkrankung positiv beeinflusst wird. Diese ergänzenden Maßnahmen alleine können die konventionellen Krebstherapien jedoch nicht ersetzen. Integrative Onkologie ist deshalb keine Alternativmedizin, sondern ein Miteinander der unterschiedlichen Therapieformen zum Wohle des Patienten.

Dr. med. Bernd Labonte: Integrative Onkologie versteht an Krebs erkrankte Menschen multiperspektivisch: physisch-biomedizinisch-molekular, auf der Lebenskräfteebene, auf der seelisch-sozialen und der biographisch-geistigen Ebene. Sie ergänzt die bewährten Behandlungsverfahren wie etwa Chirurgie, Chemo- und Immuntherapie, Strahlentherapie mit integrativen Angeboten der Anthroposophischen Medizin, Therapie und Pflege.
Was sie kann: Ziel der integrativen Onkologie ist es – angesichts der oft herausfordernden Behandlung – Lebensqualität zu erhalten, seelische Ressourcen zu entdecken und biographische Gestaltungsspielräume zu gewinnen. Dabei bezieht sie unterstützende Maßnahmen zur Linderung von Nebenwirkungen und zur Stressbewältigung ein und berücksichtigt die individuellen Bedürfnisse und Lebenssituation der Patient:innen und passt die Behandlung entsprechend an.
Was sie nicht kann: Integrative Onkologie soll und will nicht die nachgewiesenermaßen wirksamen Krebsbehandlungskonzepte ersetzen, sondern diese ergänzen. Sie ist keine Alternativmedizin im Sinne eines Entweder/Oder, sondern sie fügt den anerkannten Behandlungsmethoden solche hinzu, die aus der umfassenderen Sicht auf den Menschen entstehen, welche etwa durch die Anthroposophie möglich wird. Sie ist damit Teil eines Vorgehens, das alle modernen therapeutischen Möglichkeiten umfasst und ermöglicht einen optimalen Therapieerfolg von Operation, Chemotherapie oder Bestrahlung.
Erkrankte Menschen sollten mit den sie behandelnden Menschen sorgfältig herausfinden, welche Optionen für sie am besten geeignet sind, und sicherstellen, dass sie alle verfügbaren Informationen haben, um informierte Entscheidungen zu treffen.


Welche Möglichkeiten hat die Anthroposophische Medizin bei der Behandlung von Krebs?

Dr. med. Stefan Hiller: Einrichtungen, die Anthroposophische Medizin anbieten, praktizieren seit jeher einen integrativen Ansatz. Die Anthroposophische Medizin steht für ein ganzheitliches Gesamtkonzept, das auf Elemente ganz unterschiedlicher, ergänzender Therapien zurückgreift. Hinzu kommt ein spezielles Menschen- und Krankheitsbild. Wir blicken auf den Menschen als Ganzes, mit all seinen Facetten und Bedürfnissen. Denn zu einer Krankheit gehört mehr als nur die rein körperlichen Symptome. Dieser Blickwinkel eröffnet uns als Ärzten, Therapeuten und Pflegenden zusätzliche Möglichkeiten in der Behandlung und kann auch für den betroffenen Patienten neue Wege eröffnen, mit der Erkrankung umzugehen. Durch die konzeptionelle Verbindung komplementärer Maßnahmen mit den konventionellen Therapien entsteht ein „medizinphilosophisches Gesamtkonzept“.

Dr. med. Bernd Labonte: Bei der Krebsbehandlung bietet die Anthroposophische Medizin medikamentöse und nicht-medikamentöse Therapieverfahren an. Anthroposophische Medikamente können z.B. die Nebenwirkungen einer konventionellen Therapie mildern. Die Misteltherapie ist eines der bekanntesten Elemente der AM in der Krebsbehandlung. Sie ist inzwischen ausweislich einiger onkologischer Leitlinien (z. B. S3 Magenkrebs, S3 Brustkrebs) wissenschaftlich begründbarer Teil der Behandlung und kann begleitend zur Chemo- oder Strahlentherapie deren Verträglichkeit erhöhen und dadurch die Lebensqualität von Krebspatient:innen erhalten helfen.
Wie kann eine Erkrankung sinnstiftend in die eigene Lebensbiografie eingeordnet werden? Hilfe bei der Bewältigung und schließlich Integration der Krankheit in die Biografie kann bei einer Krebserkrankung den Heilungsprozess fördern. Hierfür gibt es in der AM unterstützende Angebote wie Biografiearbeit. Ebenso helfen Kunst-, Körper und Bewegungstherapien sowie eine ausgewogene Ernährung und spezifische Diätetik, dass Patient:innen therapiefähiger werden und dadurch der Heilungsprozess gefördert und die Lebensqualität erhöht wird.
In der Palliativmedizin können die genannten Angebote oder auch die Anthroposophische Pflege helfen, den Körper zu stärken, den Geist zu beruhigen und emotionale Belastungen zu reduzieren.


Wie hat sich die Integrative Onkologie in Bezug auf die Anthroposophische Medizin in den letzten Jahrzehnten entwickelt? Welches Potential hat sie noch?

Dr. med. Stefan Hiller: Bis vor wenigen Jahren war die Integrative Medizin eigentlich eine Randdisziplin, sie wurde nicht wirklich geschätzt, sondern eher kritisch beäugt. Das hat sich inzwischen stark verändert, integrative Therapien erleben einen regelrechten Boom. Viele Patienten haben den Wunsch, zusätzlich selbst etwas zu ihrer Genesung beizutragen und verlangen nach komplementären Methoden. Auch niedergelassene Ärzte und Kliniken setzen sich deshalb inzwischen viel stärker mit dem Thema auseinander. In diesem Zuge wird auch die Anthroposophische Medizin viel stärker wahrgenommen. In vielen medizinischen Behandlungsleitlinien werden komplementärmedizinische Therapien nun explizit aufgeführt. Das freut uns natürlich auch insofern, als dass dadurch die Verbreitung und mittelfristig auch die Evidenz dieser Therapien zunimmt. Darin sehen wir auch zukünftig noch Potential. Als anthroposophische Klinik verfügen wir bereits über viele Jahre an Erfahrung, Routine und Kompetenz in diesen Bereichen. Wir freuen uns natürlich, auch zukünftig unsere Pionier-Rolle unter Beweis stellen zu können.

Dr. med. Bernd Labonte: In den letzten Jahrzehnten hat sich die integrative Onkologie in Bezug auf die Anthroposophische Medizin weiterentwickelt. Die Aufnahme in die Leitlinien (z.B. Misteltherapie) hat zu einer breiteren Akzeptanz und Nutzung der integrativen Angebote geführt. Wünschenswert wären mehr Fördergelder und universitäre Zentren, um Forschungen zur Wirksamkeit der AM-Methoden zu realisieren, wie es uns z. B. die USA seit langem vormachen

Herzlichen Dank!

 

… über die Gesprächspartner

Dr. med. Stefan Hiller, Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin, Chefarzt Zentrum für Integrative Onkologie und Palliativmedizin, Ärztlicher Direktor an der Filderklinik
Dr. med. Bernd Labonte, Facharzt für Innere Medizin mit Schwerpunkt Gastroenterologie, Ernährungsmedizin BFD, Notfallmedizin, Onkologische Gastroenterologie DGVS, Oberarzt am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke

 05. September 2023